In den frühen Staffeln von Star Trek: Voyager gab es
eine ganze Reihe von großartigen Janeway-Folgen, z.B. "Entscheidungen", "Das Ritual"
und "Der Wille", welche nicht nur die zentrale Figur der Serie formten und
weiterentwickelten, sondern es auch schafften, ihrem komplexen Charakter gerecht zu
werden. Viele dieser Episoden gehen auf das Konto der ausführenden Produzentin Jeri
Taylor, die mit ihrem Roman "Mosaik" dem Janeway-Charakter einen glaubwürdigen
Hintergrund gegeben hat. Teilweise bedingt durch die Einführung von Seven of Nine vollzog
sich Captain Janeways Behandlung in der 4. Staffel jedoch einem Wandel - sie war zwar
immer noch der Hauptakteur der Handlung (oft als "Mutterfigur" für Seven), doch
nur wenige Episoden stellten sie selbst - ihre Vergangenheit, ihre Ansichten, ihr Wesen -
in den Mittelpunkt.
Nach "Nacht" ist "Kontrapunkt" nun schon die zweite Episode der neuen Staffel, die
Captain Janeways reichhaltige Persönlichkeit gebührend darzustellen vermag, wobei sie
hier storybedingt weit mehr im Mittelpunkt steht als in der Eröffnungsepisode der
Staffel. Auch geht es diesmal nicht nur um einen "Mosaikstein" - einen
Charakterzug (ihre alles übertreffende Fürsorge für die Crew) bzw. eine
Entscheidung Janeways (der dazu im Konflikt stehende Entschluß im Pilotfilm).
"Kontrapunkt" behandelt nicht die zentrale Prämisse der Serie. Stattdessen
konzentriert sich die einen hohen Anspruch erhebende, aber nichtsdestotrotz ereignisreiche
und spannende Episode auf die Vermittlung eines Gesamtbildes von Captain Janeway:
die rational denkende, kühl kalkulierende Wissenschaftlerin auf der einen Seite, aber
eine sensible, fürsorgliche, mitfühlende Frau auf der anderen Seite. Gewissermaßen baut
die gesamte Geschichte auf dieser Charakterisierung auf, und würde unter anderen
Umständen - mit einem anderen, männlichen Captain, wohl nicht auf dieselbe Weise
funktionieren. Ich wage sogar zu behaupten, daß die Episode dann ihren Reiz verlieren und
längst nicht so erfolgreich bei der Darstellung des komplizierten Verwirrspiels wäre -
was sie zu einem Prüfstand für die Fragen "Warum einen weiblichen Captain?"
und "Welche Vorteile hat ein weiblicher Captain?" macht. Warum nun ist das so?
Das zentrale Thema der Episode ist, der Titel deutet es an, der "Kontrapunkt",
ein Begriff aus der Musik, der in der Episode vielfältige Anwendung findet. Die
wichtigste ist dabei sicher die "Beziehung" zwischen den beiden Hauptfiguren der
Handlung - Captain Janeway und Ermittler Kashyk, welche, gleich zweier gegensätzlicher
Melodien, gegeneinander spielen und dabei - trotz aller scheinbaren Gemeinsamkeiten - doch
jeweils ein eigenes "Thema" vertreten. Janeway steht natürlich für den
Humanismus und die Toleranz der Föderation des 24. Jahrhunderts, in dem sie Moral über
Gesetz stellt und kurzerhand eine Gruppe von verfolgten Telepathen durch feindliches
Gebiet schleust, während Kashyk als Vertreter des intoleranten, fremdenfeindlichen, fast
totalitären Devore-Regimes der Gegenpol ist; ein Regime, dessen striktes Aufbauen auf
Hierarchie und Regeln und dessen irrationaler Haß Telepathen gegenüber auf bedrückende
Weise an die menschenverachtenden Ereignisse im faschistischem Deutschland erinnern. Beide
Charaktere, mit hoher Intelligenz, Charaktertiefe, Professionalität, aber auch List und
Risikobereitschaft, sind die Figuren in einem Spiel, das mit seinen überraschenden, vom
Scharfsinn seiner Spieler ebenso wie vom reinen Glück bestimmten Wendungen einer Partie
Schach ebenso wie einer Runde Poker nahekommt. Die Einsätze für beide sind hoch - für
Captain Janeway steht die Freiheit ihrer Crew und die Fortsetzung ihrer Heimreise auf dem
Spiel, während ihr Gewinn nichts geringeres als die Leben von zwölf Flüchtlingen sowie
zweier telepathischer Crewmitglieder wäre. Kasyhk steht von vorn herein auf der
überlegenen Seite - droht ihm doch allenfalls Schande und Unehre aufgrund eines
mißlungenen Auftrags. Dieser besteht ja nicht nur aus dem Aufspüren der Telepathen. Er
weiß von Anfang an, daß die gesuchten Flüchtlinge an Bord der Voyager sein müssen,
doch will er das meistmögliche für das Regime, das er vertritt, herausholen. Er geht
also scheinbar auf Janeways Spiel ein, spielt sogar mit, um neben den Telepathen auch
ihren Fluchtweg - das Wurmloch - ausfindig zu machen (würde er sie jetzt festnehmen,
könnten ja trotzdem andere Flüchtlingsgruppen dieses für ihre Flucht benutzen). Das
wäre sein Gewinn, doch trotz seiner guten Ausgangschancen waren seine Ziele zu hoch
gesteckt - am Ende verliert er. Der Grund dafür ist, wie eingangs erwähnt, Kathryn
Janeways Rolle als weiblicher Captain, und ihre komplexe Persönlichkeit. Er begeht
schlichtweg den Fehler, sie zu unterschätzen. Seine grundlegende Taktik war es von Anfang
an, auf Captain Janeways einzigen Angriffspunkt Einfluß zunehmen und sie gefühlsmäßig
zu beeinflussen. Er weiß, daß er kaum eine Chance hat, sie durch Druck oder Gewalt zur
Kooperation zu bewegen, da würde er bei dem engagierten, im Bedarfsfall knallhart
agierenden Captain auf Granit stoßen, zumal er sein Ziel verfehlen würde: sie scheinbar
in ihrem Sinne handeln zu lassen, während er am Ende der einzige Nutznießer der
Bemühungen (d.h. der Koordinaten des Wurmlochs) ist. So spielt er den Überläufer, der
noch immer der mächtige, attraktive und charmante Kommandeur ist (angeblich "auf
Urlaub"), welcher sich aber privat als komplexe Persönlichkeit mit großer
Charaktertiefe, einer profunden Bildung, wissenschaftlicher Neugier, Sinn für Musik und
Ästhetik sowie einem geheuchelten Moralverständnis entpuppt. Da er die
Voyager-Datenbanken scheinbar genau studiert hat (sicher nicht nur in Bezug auf
Musikrichtungen), kann er sich Captain Janeway wunschgemäß präsentieren, die den Köder
auch - scheinbar wunschgemäß - schluckt, weil sie nun einmal das unvermeidliche, ihrer
Erziehung und ihrem Weltbild entsprechende Mitgefühl zeigt (für das ach so
bedauernswerte Opfer der Gesellschaft, daß nach seiner ethischen Erleuchtung dem ganzen
Horror entkommen will) und rein gefühlsmäßig dem "perfekten, ebenbürtigen
Partner" Kashyk sicher nicht abgeneigt ist. Sein ganzes Agieren an Bord der Voyager,
seine enge Zusammenarbeit mit Captain Janeway erfolgt dabei eigentlich grundsätzlich
allein mit der Absicht, sie in falscher Sicherheit zu wiegen, ihr Vertrauen zu erlangen,
ihre Gefühle gegen ihren Verstand auszuspielen und sie so in die Falle tappen zu lassen,
ohne daß sie es merkt. Letztendlich tut sie dies nicht, sondern kann Kashyk seinerseits
in eine Falle locken, als sein Verrat an ihr (bzw. sein nie begangener Verrat am
Devore-Imperium) offensichtlich wird, da sie offensichtlich die ganze Zeit
"zweigleisig" auf Nummer sicher gespielt hat: es gelingt ihr, ihn in eine
Situation zu bringen, in die ihm nur ein Ausweg - ein Ausweg im Sinne Janeways - bleibt:
die bedingungslose Aufgabe angesichts der Tatsache, daß nicht nur seine Mission
endgültig fehlgeschlagen ist (das Wurmloch wurde nicht rechtzeitig gefunden, und die
Telepathen sind entkommen), sondern auch seine Karrerie bedroht ist, falls er nicht auf
die Inhaftierung der Voyager-Crew verzichtet und sämtliche Vorkommnisse vertuscht.
"Kalkuliertes Risiko" kann man das Vorgehen Janeways am besten beschreiben, da
zwar große Teile ihres Plans sorgfältig bedacht waren (zu dem Zeitpunkt, da Kashyk die
letzte Inspektion der Voyager anordnete, war die erfolgreiche Flucht der Telepathen so gut
wie sicher), aber letzten Endes niemand sagen konnte, wie die Devore-Truppen reagieren
würden, wenn sie an die Wand gestellt werden. Allein die präzise Einschätzung von
Kashyks Charakter konnte Captain Janeway ausreichend Sicherheit geben, um die Freiheit
aller so wagemutig zu riskieren.
Am Ende bleibt nur die interessante Frage: Wir wissen, daß Captain Janeways wacher
Verstand, ihre Vernunft und Verantwortung als Captain gegenüber ihrer Crew nie ausgesetzt
hat, doch inwieweit hat sie wirklich rational gehandelt, und inwieweit
ist sie dem Charme Kashyks letztendlich doch erlegen? Immerhin hat sie ihm angeboten, nach
der Mission an Bord zu bleiben und ihre Beziehung (in welcher Form auch immer)
fortzusetzen, und selbst nach dem Auffliegen des Verrats äußert sie Bedauern, daß ihr
ebenbürtiger Kontrahent doch nicht mehr war als das - ein Gegner. Auf der anderen Seite
könnte man sich aber auch fragen: inwieweit hat sie bewußt ihren
Charme eingesetzt, um Kashyk ab dem Moment, als er als Überläufer an Bord kam und sein
"Interesse" für sie offensichtlich wurde, genau auf die Weise handeln zu
lassen, wie er gehandelt hat, und ihn letztendlich zu selbstsicher, zu wagemutig werden
lassen? Sie war es, die ihm schnell offenkundiges Verständnis und Vertrauen
entgegengebracht hat, zum Bleiben animiert hat und während des gefühlsschwangeren
Abschieds im Shuttlehangar die Initiative übernahm! Hat sie bereits vor der finalen List
"falsche Anzeigen" generiert, und wie falsch waren diese wirklich? Hat ihr
Wagnis - der Transport der Telepathen - trotz der unvorgesehenen Einmischung Kashyks am
Ende zum Erfolg geführt, oder war es doch von Anfang an sein Spiel, daß sie zu ihren
Gunsten beendet konnte? Wer hat im Verlauf der Handlung wen ausgespielt? Die
Interpretationsmöglichkeiten, die "Kontrapunkt" offenbart, sind einfach
faszinierend.
Letztendlich ist es die große Stärke der Episode, die Figuren einmal weniger mit Worten
denn mit Handlungen und szenischen Darstellungen zu charakterisieren. Es ist zwar schade
und in mancher Hinsicht bedrückend, daß die moralische Grundlage (Fremdenfeindlichkeit,
Schutz von Minderheiten etc.) bloßes Randthema bleibt und ein Gesellschaftskommentar
gleich ganz umgangen wird - immerhin wurde Kashyk nicht vom Unrecht seiner Taten
überzeugt, im Gegenteil, er wird weiterhin auf die gleiche Weise handeln, und das
Devore-Imperium wird weiterhin ein Unrechtsstaat bleiben -, doch ist
"Kontrapunkt" eben in erster Linie "nur" eine reine Charakterepisode
für Captain Janeway - eine exzellente, auf dem Zusammenspiel (bzw. Gegenspiel) von gerade
mal zwei Charakteren aufbauende, durch hervorragende Kontinuität und Konsistenz
überzeugende Episode, in der wir durch bloßes Studium der Vorgehensweise Kathryn
Janeways und ihres Kontrahenten fast mehr über ihren humanistischen, vernunftbestimmten,
willensstarken, aber trotzdem emotionalen Charakter lernen als in manch anderer Episode
durch große Reden und moralische Debatten.
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