"Die Muse" ist Joe Menoskys Abschiedsvorstellung im Star Trek Universum - und
sicher einer der außergewöhnlichsten Star Trek: Voyager Episoden in dieser Staffel.
Sie bringt zusammen, was schon lange zusammen gehört: Star Trek und das Theater. Nicht
durch Zufall haben viele der wirklich klassischen Star Trek Episoden einen nicht primär
action-orientierten, sondern dramatischen Handlungsverlauf, nicht durch Zufall sind so
viele Star Trek Darsteller auf der Bühne beheimatet. Und nicht umsonst haben so viele
Star Trek Episoden literarische Bezüge ver- bzw. eingearbeitet (z.B. Shakespeare in
"Star Trek VI"). Diese Episode nun präsentiert
eine gewagte Idee: sie baut in die Handlung eine "antike" Interpretation einer
typischen Star Trek Geschichte ein, welche eine etwas abgewandelte, aber doch noch klar
erkennbare, außerirdische Variante des klassischen griechischen Dramas darstellt.
Sicherlich - der Shuttleabsturz als Prämisse ist eine der unoriginellsten Ideen von
"Star Trek: Voyager", und doch die einzige Möglichkeit, um diese Handlung zu
ermöglichen: ausgerechnet B'Elanna Torres, nüchterne, zuweilen zynische Chefingenieurin
des Schiffes, dient (erfreulicherweise, muß man sagen, in Hinblick auf das zu häufige
Zurückgreifen auf Seven und den Doktor), auf einem fernen Planeten gestrandet, als
kreative Inspiration - als Muse - für Kelis, einem enthusiastischen jungen Drehbuchautor
und Bühnenregisseur, der die Logbücher des Delta Flyers und die Erzählungen von
B'Elanna in ein echtes Bühnenstück ("Die Voyager-Ewigen") mit echten
Bühnencharakteren umarbeitet. Entsprechend dem "primitiven" Verständnis der
Außerirdischen wird in diesem der Delta Flyer zu einem Segelschiff, das in eine Notlage
gerät und an den Felsen der Küste, an der das fremde Volk lebt, zerschellt, wo Torres
von Kelis gefunden wird. Der Delta Flyer ist ein "Beiboot" der Voyager, ein
stolzes Schiff, das, verschollen auf den Weltmeeren, auf dem Heimweg zu einer weit
entfernten, blaugrünen Insel - der Erde - ist (dies bringt Voyager einmal in direkte
Konkurrenz zur "Odyssee" von Homer). Die
Suche der Voyager nach den Vermißten wird von den Borg, hier ein Soldatenvolk, welches in
bienenkorbartigen Schiffen die Meere bereist, behindert. Alle Aspekte der Serie wurden
somit liebevoll und detailgetreu auf den veränderten, nicht mehr im 24. Jahrhundert
angesiedelten Hintergrund der Reisen der Voyager übertragen - wobei sich einmal mehr
zeigt, daß die Vision Gene Roddenberrys (d.h. die durch die Handlung übermittelten
Aussagen und Intentionen) universal ist und nicht zwangsläufig an die Zukunftselemente
gebunden sein muß (bereits "23:59" zeigte eine
Star Trek typische Geschichte losgelöst vom "Star Trek Universum", an einem
veränderten Schauplatz und zu einer anderen Zeit).
Was die Aufführung des Bühnenstücks selbst angeht, so sind die Parallelen zum echten
Theater subtil, aber nicht zu übersehen: der Chor als Mittel, die Handlung für das
Publikum verständlicher zu machen, zu beschreiben und letztendlich auch voranzubringen,
indem Änderungen des Schauplatzes und der Zeit angekündigt werden (diese Aufgabe
übernehmen bei Star Trek die "Logbucheinträge"), stammen geradewegs aus dem
griechischen Drama, ebenso wie die Entwicklung des Schauspiels aus religiösen Wurzeln mit
der Entstehung des irdischen Theaters übereinstimmt. Weitere auffällige Parallelen sind
die Örtlichkeiten (die Zuschauerplätze als halbkreisförmige, abgestufte Tribüne mit
der Bühne an niedrigster Stelle, wie es auch im antiken Griechenland und Rom der Fall
war), die Verwendung von Masken (wobei im antiken Griechenland ausschließlich Männer
spielten - auch Frauenrollen) und der Spannungsbogen des Stücks, der mit wichtigen
Elementen wie der "Wende" und der "Auflösung" an das griechische
Drama angelehnt ist.
Jedoch beschränkt sich "Die Muse" nicht auf das Einarbeiten von Parallelen zum
Theater - die Folge bietet durch die Darstellung nicht nur der Bühnenstücke selbst,
sondern auch der Dinge, die sich "backstage" z.B. während der Proben ereignen,
Einblicke in die kreative Grundlage und den Schaffensprozeß sowohl des Schauspiels
als auch der modernen TV-Episoden und offenbart, in Hinblick auf die Verwendung von
Star Trek spezifischen Elementen in den Bühnenszenen, den Alltag und die Schwierigkeiten
des Autorenteams (was in anderer Form ja schon einmal in "Rebellion
Alpha" geschah).
Natürlich kommt eine wöchentlich unter großem Zeitdruck produzierte, für ein
Millionenpublikum gedachte und damit weitaus "gefälligere" Fernsehproduktion
(selbst wenn sie so qualitativ hochwertig wie Star Trek ist) bei weitem nicht an ein einem
kleinen, gebildeten Publikum vorbehaltenes, sorgfältig vorbereitetes und einstudiertes
Bühnenstück heran - und doch ist "Die Muse" durch einige Anpassungen des Plots
vor allem eine Reflexion des ersteren. So hat der Autor und Regisseur des Stücks Kelis
nur eine einzige Woche Zeit, um die zweite Aufführung der "Voyager-Ewigen" zu
realisieren - wie die Produktionsteams der "Star Trek" Serien. Und er hat nicht
den Luxus, sein Stück beliebig und frei nach seinem Gusto zu gestalten. Er steht bei
seinem Patron "unter Vertrag" und muß ihn und das Publikum unterhalten und
überzeugen, damit diese so angetan sind, um wiederzukommen, und durch die Einnahmen und
die großzügige Entlohnung seines Schutzherrn so seine weitere Existenz in diesem Metier
gesichert ist. Klingt dies nicht allzu vertraut? "Inspiration kann nicht erzwungen
werden" sagt Kelis. Und doch müssen die Star Trek Autoren jede Woche das Gegenteil
beweisen, wobei sie gleichzeitig einen Kompriß zwischen dem Ausleben der eigenen
kreativen Vorstellungen und der Sicherstellung des Zuspruchs eines möglichst großen
Teils des Publikums (und davon sind die "Hardcore" Fans nur der kleinste Teil)
finden, sprich, für hohe Einschaltquoten sorgen müssen, um so die Fortsetzung der Serie
zu sichern. Diese rein ökonomischen und soziologischen Überlegungen waren selbst dem
kreativsten Star Trek Kopf - dem Schöpfer des Mythos selbst, Gene Roddenberry, nicht
fremd. "Um eine Serie zu erschaffen und vor der Absetzung zu bewahren, muß man eine
Mindestanzahl von so und so vielen Millionen Zuschauern ansprechen und sie zum
Wiedereinschalten bewegen." offenbarte er etwa ein Jahrzehnt nach Einstellung der
klassischen Star Trek Serie. Doch während Fernsehserien auf der einen Seite diesen
nüchternen Grenzen unterworfen sind und somit nicht die literarische Tiefe eines
Schauspiels haben und entsprechende Wagnisse eingehen können, haben sie auch enorme
Chancen. "Fernsehen hat eine unglaubliche Kraft. Denn die ultimative Macht ist schon
immer eins gewesen: die Kontrolle und Beeinflussung des Geistes der Menschen." war
eine andere Aussage Roddenberrys. "Die Muse", die im Kern wohl
Roddenberry'schste Star Trek Folge seit langem, zeigt dies auf eindrucksvolle Weise.
Versteht man die Produktion der "Voyager-Ewigen" als Reflexion der Produktion
einer Star Trek Serie, ist es nämlich in erster Linie die klare Ausrichtung der
Erzählung, welche das hier gezeigte Bühnenstück und damit Star Trek im besonderen Maße
auszeichnet. Es geht nicht nur um die Erfüllung der Erwartungen und die Unterhaltung des
Publikums, sondern um die glaubhafte Darstellung einer bestimmten Position, mit der der
Autor seine Zuschauer in positiver Weise zu beeinflussen versucht. Natürlich will er sie
nicht indoktrinieren, wie dies die Propaganda mit offensiven Aufforderungen und
einprägsamen Handlungsanweisungen tut, sondern auf subtile Weise zum selbständigen
Nachdenken anregen. Nun war Star Trek immer am erfolgreichsten, wenn es nicht die
"Holzhammermethode" anwendete (à la "Nimm keine Drogen!"), sondern
der Zuschauer allein durch die dargestellte Situation zur gleichen, vom Autor intendierten
Schlußfolgerung gebracht wurde - und damit die Handlung und ihre Aussage im Mittelpunkt
stand, und nicht die individuellen Elemente - der Schauplatz, die Charaktere, ihre
persönlichen Motive und ihre Beziehungen untereinander, auch wenn dies den Irrealismus
des ganzen fördert. Durch Kombination jener Elemente kann man eine interessante
Geschichte erzählen und ein realistisches Spiegelbild der Gegenwart wiedergeben,
doch darum allein geht es ja primär gar nicht - weder bei Star Trek noch bei vielen
Theaterstücken. Man glaubt es kaum, aber in den besten Star Trek Episoden sind die
Handlungen idealisiert (wenn nicht überzeichnet), die Charaktere eher
"überlebensgroße" Typen denn individuelle Figuren, und ihre persönlichen,
zwar viel darstellenden, aber wenig aussagenden Beziehungen (von denen
Gene Roddenberry übrigens ein entschiedener Gegner war) treten hinter dem großen
ganzen, der menschlichen Botschaft, zurück. Dies ist eine klare Absage an alle
Soapelemente, wie B'Elannas Mißfallen angesichts der vielen "Küsse" zeigt
(welche zudem die für die erfolgreiche Übermittlung der Botschaft notwendige
Glaubwürdigkeit des Stücks unterminieren). Aber auch in Bezug auf die Folge selbst: wir
erfahren so gut wie nichts über das Volk und den Planeten, auf dem B'Elanna gestrandet
ist, und Hinweise auf ihre Kultur bekommen wir nur indirekt im Verlauf der Handlung, kaum
durch direkte Angaben. Aber ist dies wirklich ein Mangel angesichts der interessanten
Themen, die die Episode behandelt, und die Gedankengänge, die sie auszulösen vermag?
Schließlich untermauert die finale Aufführung der "Voyager-Ewigen"die
Wirkungskraft dieser "Star Trek Formel" auf überzeugende Weise. Wie realistisch
ist es, daß die "Janeway" Figur - hier idealisiert dargestellt als eine weder
von Gewalt im allgemeinen noch von persönlichen Rachegelüsten getriebene, tugendhafte
Person - ihre Waffen im Moment der Konfrontation wegwirft, um ein Ende des Konflikts
herbeizuführen? Eigentlich überhaupt nicht, doch die Aussage ist unverkennbar, und das
ist das Entscheidende. Auf dieser übergeordneten, fast schon abstraktene Ebene kann die
Handlung dann tatsächlich eine Reaktion hervorrufen, und Worte etwas verändern. Neben
dieser allgemeinen Hervorhebung der besonderen Schwerpunkte des (Roddenberry'schen) Star
Trek zeigt "Die Muse" aber, wie bereits angedeutet, auch spiegelhaft die
alltäglichen Schwierigkeiten der Autoren mit den Science Fiction Aspekten der Serie. So,
wie es die Schauspieler von Kelis für schwierig erachten, so sehr von der Realität
abweichende Konzepte wie ein Volk mit "Bienenstockmentalität" (eine solche
Nivellierung wird wohl jedem Volk erst mit der einsetzenden Industrialisierung und
Massenproduktion begreiflich werden) oder einen Menschen ohne jede Emotionen glaubhaft
herüberzubringen und ihrem Publikum begreiflich zu machen, so haben, wie wir alle wissen,
auch die Autoren von "Star Trek: Voyager" mit dem einen oder anderen ihre liebe
Mühe. Wieso sonst schrecken sie in der Regel davor zurück, Tuvok in seinem Normalzustand
- als nicht von außen oder innen beeinflußter, völlig rationaler Vulkanier - zu
erforschen? Die entsprechende Beschwerde der Schauspieler in "Die Muse" klingt
da schon fast wie eine Beichte. Eine spezielle Notwendigkeit, der die Autoren nämlich
grundsätzlich Episode für Episode Rechnung tragen müssen, um die Glaubwürdigkeit des
ganzen zu gewährleisten, ist die strikte Limitierung der Geschichten und Handlungen der
Charaktere auf die durch den Hintergrund (also grundsätzlichen Vorgaben und durch
vorherige Folgen etablierte Erweiterungen derselben) definierten Möglichkeiten.
Ersichtlich wird die Wichtigkeit von Kontinuität und Charakterkonsistenz im großen
Maßstab nicht nur an "Tuvok", der nicht weinen darf, oder "Seven",
die nicht lieben kann, sondern auch am Verhalten der "Janeway" Figur im
Bühnenstück. Sie könnte die hier wehrlose Borgkönigin einfach vernichten, wie Kelis
anmerkt, doch spricht ihr etabliertes Handeln als Sternenflottenoffizier dagegen. Und
Kelis' Hauptproblem im letzten Teil der Episode ("Ich brauche noch ein Ende.")
ist fast schon ein Klischee unter den Drehbuchautoren, welches aber trotzdem hin und
wieder vorkommt, z.B. wenn ein Drehbuch noch nicht vollständig ist bzw. noch verändert
wird, während die Dreharbeiten schon längst begonnen haben.
Trotz aller im Verlauf der Handlung eingeführten Schwierigkeiten (z.B. auch die
eifersüchtige "Seven" Darstellerin) ist das Finale von "Die Muse",
und damit der Schluß des Theaterstücks, aber letztendlich in seinem Verlauf unerwartet,
emotionsgeladen und sehr überzeugend, weil es für das Bühnenstück nicht ein
vorgefertigtes Wunsch-Ende aufzeigt, sondern die Darsteller der "Voyager-Ewigen"
improvisieren läßt, sogar das Publikum miteinbezieht, und den realen Abschied B'Elannas
mit der Fiktion verschmelzen läßt (wobei die "Realität" strenggenommen ja
selber eine Fiktion ist!). Diese hat Tränen in den Augen, als Kelis, der sich im Stück
ebenfalls selbst verkörpert, ihr schwört: "Ich werde inspiriert sein... jedes Mal
wenn ich an Sie denke." und sie in einem funkelnden Lichtstrahl in den Himmel
aufsteigt (also von der Voyager hochgebeamt wird.) Der Patron ist beeindruckt und scheint
die Aussage des Stücks, für welche, wie sich gezeigt hat, nicht immer ein bis ins letzte
Detail durchdachtes Konzept, ein perfektes Timing und ein ohne Variationsmöglichkeiten
festgelegtes Skript nötig ist, verstanden zu haben; das Publikum des Theaterstücks
ist gerührt und tief bewegt - doch dies gilt auch für Zuschauer der Episode,
welche es blendend verstanden hat, eine ungewöhnliche, aber umso interessantere Prämisse
mit den bewährten Qualitäten der Serie zu verknüpfen, etwa der Zusammengehörigkeit der
Voyager "Familie" (z.B. wenn Janeway den aufgebrachten Tom beruhigt, Janeway und
Chakotay um die Vermißten besorgt sind und selbst Tuvok wahrhaftig bis zum Umfallen an
der Suche nach den beiden mitwirkt).
So ist "Die Muse" alles in allem ein echtes Geschenk für jene Star Trek Fans,
die in der Sternensaga mehr sehen als Raumschiffe und neue Technologien in futuristischer
Umgebung, nämlich ihre dramatischen Qualitäten und ihre einzigartige Aussagekraft zu
schätzen wissen.
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